Neuauflage
Seit der Veröffentlichung der ursprünglichen Seite über das Leben mit Lea sind rund 18 Jahre vergangen. In der Zwischenzeit hat sich vieles getan. Lea wohnt seit 2012 in der Wohnanlage des KBZO in Ravensburg und fühlt sich dort sehr wohl. Sie macht bei ihren regelmäßigen Besuchen bei uns sehr deutlich, wann sie wieder nach hause, also in die Wohngruppe möchte.
Durch die Covid-19-Pandemie trat im März eine besondere Situation ein, die uns veranlasste, diese Neuauflage der Seite zu erstellen. Davon und von einigen anderen Begebenheiten mit der heute 27 jährigen jungen Frau wird in diesem Kapitel zu lesen sein. Die Texte werden immer wieder mal erweitert.
Erste Liebe?
Die erste Liebe der eigenen Kinder ist an sich eine schöne Sache. Die Kinder werden groß, nabeln sich ab, sie entwickeln sich.
Wenn das Kind allerdings geistig behindert ist, und die Liebe wohl kaum erwidert wird, haben wir Eltern ein Problem damit.
Lea tanzt gerne. Bühnen sind für sie keine unerreichbaren Orte, sondern Anlässe stetigen Bemühens, dorthin zu gelangen. Schon als Vierjährige war sie unbemerkt auf die Bühne des NN-Theaters geklettert, um sich beim Schlussapplaus mit zu verbeugen. So auch in unserem Urlaub, den wir in Porlezza am Lago di Lugano auf einem kleinen italienischen Campingplatz verbrachten.
Lea ist 17 Jahre alt geworden, schwankt zwischen kleinem Mädchen und pubertärer Zicke - wie eben jedes andere Mädel in diesem Lebensabschnitt. Und wie jedes andere Mädchen in diesem Alter zeigt unsere Tochter Gefühle. Im Urlaub erstmals so, dass wir sie als ihre erste Liebe deuteten. Ivan hatte es ihr angetan. Er war einer der vier Animateure, die sich liebevoll um die abendliche Freizeitgestaltung der Kinder auf dem Platz in Form von Kinderdisco und anderen Aktivitäten kümmerten. Na, und weil Lea doch gerne tanzt?
Zum Geburtstag kamen Ivan und seine Frau Katja, um Lea zu gratulieren, sie brachten ein Geschenk mit und Lea freute sich in Grund und Boden. Sie himmelte Ivan an, Katja wurde kaum eines Blickes gewürdigt. Und abends auf der Bühne suchte sie zielstrebig nach ihrem Schwarm.
Immer wenn Lea, die von ihren Brüdern schon den Spitznamen "Schleichfuß" verpasst bekommen hat, klammheimlich unseren Zeltplatz verließ, brauchten wir nicht lange zu suchen. Nicht etwa, weil unser Hund ihr folgte, sondern weil sie selbst sich auf der Suche befand und wir wussten, wonach sie suchte. Irgendwo in der Nähe der Bühne oder des dortigen Restaurants steckte sie. Niedlich fanden wir ihre verschämten Blicke in Ivans Richtung. Irgendwie süß ihr Verhalten. Und doch kamen Fragen auf, machten wir uns Gedanken darüber. Wird Leas Verliebtheit irgendwann erwidert werden können? Sie kann nicht sprechen, kann sie sich mitteilen, kann sie zeigen, welche Gefühle sie hat? Sie ist 17, sieht aber aus wie ein acht oder neun Jahre altes Kind, ihre motorischen Fähigkeiten entsprechen denen einer Zweijährigen. Was geht in ihrem Kopf vor, wenn Ivan sich verabschiedet? Er ist kurz vor Ende unseres Urlaubs zurück nach Turin gefahren, um dort den Winter über zu arbeiten.
All diese Fragen ließen die Unbeschwertheit Leas Verhaltens einen Schatten bekommen, sorgten bei uns für einen Kloß im Hals. All das aber sind unsere Probleme, die der Eltern.
Lea ist in der Lage, Katja zu ignorieren, sie unterscheidet also ganz bewusst. Lea freut sich über Ivan und wenn sie ihn wieder treffen würde, würde sie sich ebenso freuen wie sie sich verschämt an uns gedrückt hat, als sie Ivan auf dem hier veröffentlichten Foto sah. Jetzt gerade aber himmelt sie ihren Zivi im KBZO an. Für sie ist die Erste Liebe ein Zustand von Glück und das werden wir ihr lassen. Sie lebt diese Lebensphase nach wie vor unbeschwert, kennt das Wort "unglückliche Liebe" nicht und wenn doch, wer kennt es nicht? Auch das wäre eine vollkommen normale Erfahrung für sie. Und genau das ist doch eigentlich unser Bemühen, nämlich Lea ein ganz normales Leben leben zu lassen.
Leas Beispiel ist weder zu verallgemeinern, noch übertragbar. Es gibt viele Eltern, die sich Gedanken zu diesem Thema machen und die Hilfe suchen bei Fragen zur Entwicklung ihrer Kinder. Erste Anlaufadressen sind dabei zunächst die Schulen und Werkstätten, die die Kinder betreuen, hier gibt es in der Regel Angebote zum Thema oder Verweise auf spezielle Beratungshilfen. Dann sei genannt die Lebenshilfe, die -- als Verein in vielen Orten aktiv und als Elterninitiative sehr kompetent -- weiterhelfen kann.
Fische
Wir hatten bei unserem Fischer am Bodensee einen frischen Zander gekauft und ihn in Zeitungspapier eingewickelt in den Kühlschrank gelegt. Es war Freitagabend.
Am Samstag wollte ich den Fisch zubereiten, fand ihn aber nicht mehr. Außer dem Zeitungspapier war von ihm nichts mehr zu sehen. Lydia nach dem Verbleib des Fisches befragt, brachte ihn auch nicht wieder. Erst als wir uns auch außerhalb der Küche auf die Suche nach dem Fisch machten, wurden wir fündig. Lea hatte ihn genommen, sich damit im Wohnzimmer auf den Sessel gesetzt, um einen ihrer Disney-Filme anzuschauen. Der Zander übernahm die Rolle eines Kuscheltieres.
Es war nicht leicht, ihr zu erklären, dass ich die Wolle am Fisch abwaschen und den Schleim vom Fisch an ihrem Pullover entfernen wollte.
Den Werdegang des Zanders hin zu einer Mahlzeit verfolgte Lea anschießend mit kritischem Blick, aber gespannt auf das Ergebnis. Sie bekam die eine Hälfte des Fisches.
Leas Vorliebe für Fisch ist legendär. Schon als etwa achtmonatiges Kind hat sie bei mir auf dem Schoß gesessen und eifrig von der Lachsforelle gegessen, die wir zu Ostern 1993 zubereitet hatten.
Noch heute lässt sie für Fisch alles stehen und liegen.
Alltag
Mein Gott ist das ein Tag. Dabei – ist er so ungewöhnlich? Nein, vielmehr manifestierte sich heute der Schäfersche Alltagswahnsinn in Überschwemmungen, Verstopfungen und ähnlichen Katastrophen – aber ungewöhnlich? Eher weniger.
Gut – der Tag begann damit, dass Ralf trotz Urlaubs zur Arbeit fuhr und ich mit begipstem David, Chaoten-Lea und Power-Marian den Tagesablauf allein gestalten musste. Aber das ist schließlich Alltag. Also nichts Ungewöhnliches. Das Ungewöhnliche ist vielmehr, dass Lea zur Zeit so gut drauf ist und wie ein Kleinkind ständig beaufsichtigt werden muss. Eine Tatsache, die ich heute unterschätzt habe, und somit die Konsequenzen zu tragen hatte.
Gegen 9 Uhr räkelte ich mich aus dem Bett und schlich nach unten, um noch in Ruhe einen Kaffee trinken zu können. Doch das Schleichgehabe erwies sich als völlig überflüssig, da Lea und Marian bereits dabei waren, ihr Zimmer auf den Kopf zu stellen und ich sie mitten in einer Kissenschlacht überraschte. In der Luft lagen fröhliches Gequieke und jede Menge Daunengefluse. Wir beginnen den Tag – die Kinder gutgelaunt und ich mit einem vor Schreck erstarrtem Gesicht. Nachdem mein Adrenalinspiegel wieder seinen Nullpunkt erreichte, und das unbändige Verlangen, die Kinder lautstark zur Verantwortung zu ziehen, nachgelassen hatte, lief – nein – stapfte Lea fröhlich und völlig unbeeindruckt von fliegenden Federn ins Bad, während Marian mit seinen kleinen Fingern auf das letzte sich zur Erde hinabsinkende Bettfederchen zeigte mit den Worten: „Die wollten auch mal raus aus'm Kissen. Da is' es nämlich dunkel.“ Und schwupp, einer Standpauke entrinnend, ebenfalls ins Bad floh. Dafür gab es keine Diskussionen beim Anziehen. Freiwillig zog sich unser Youngster um, Lea plünderte derweil den Kleiderschrank und David hat den furiosen Anfang verschlafen. Anschließend erfolgte das obligatorische Treffen in der Küche. Lea möchte oder genauer gesagt wollte Rührei.
Eier sind genug im Haus, also schnell die Eier angerührt, Kind in den Stuhl plaziert, Lätzchen um, Stulle für Marian, dann ziehe ich mich ins Bad zurück – Waschen, Zähne putzen, Kontaktlinsen einsetzten.
Das Kinderzimmer notdürftig gereinigt und ab in die Küche. Marian begegnet mir auf der Treppe mit den lapidaren Worten „Lea macht sich noch n' bisschen Rührei“. Oh mein Gott – ich hatte die Eier nicht weggestellt. Im Bruchteil einer Sekunde befinde ich mich in der Küche und sehe gerade noch, wie Lea das zwölfte Ei samt Schale genüßlich in einen Topf wirft, kräftig rührt. Und während des Eingießens in die Pfanne rinnen ihr gut Zweidrittel der Eiermasse, angereichert mit Pfeffer, Milch, Wasser und weiß Gott sonst noch was, die Küchenzeile hinunter. Die zähflüssige, sabberige Masse dringt durch die Ritzen der Schubladen. Meine lautes „Lea -nein“ kommt zu spät. Trotzdem ich schimpfend in der Küche stehe und schnell mittels Küchentücher größeren Schaden verhindern kann, läßt Lea sich nicht beeindrucken und schabt mit dem Holzlöffel in der Pfanne herum. Schließlich ziehe ich sie von der Pfanne weg und rede ihr ins Gewissen. Kaum geendet, holt Lea zum tatkräftigen Gegenschlag aus – ich erhalte einen beleidigten Klaps auf den Rücken. „Lea, raus!“, befehle ich, nun richtig wütend. Madame zieht beleidigt von dannen. Ich säubere alles notdürftig, und da die Herdplatte noch warm ist, brennt dort etwas vom „Rührei a la Lea“ ein.
Die kleine Maus schaut derweil wieder durch die Tür. „Sieh dir nur an, was du gemacht hast“, fordere ich sie auf und besorge schon mal die Reinigungsutensilien. Lea blickt mich aufmerksam an. Schnell das Ceranfeld geschrubbt, Wasser hinterher und ...wo waren die Küchentücher? Hatte ich sie nicht eben noch dahin gelegt? Muss wohl Einbildung gewesen sein. Macht nichts, sind ja noch genügend da, aber warum johlt Lea so freudig aus dem Wohnzimmer?
Ein Blick nach nebenan offenbart es. Lea versteckt Nüsse in den Blumentöpfen, die Afra wieder ausbuddelt. Welch ein Spaß, wenn Mutter Erde in hohen Bögen an einem vorbei spritzt! Aber nicht für mich.
Hund rausgeschickt, mit Lea geschimpft und Erde zurückgetopft. Leas Unterlippe schnellt vor und ein leichtes Beben macht sich breit, doch bevor sie losheult, will sie einen Friedensvertrag schließen und drückt mir die Mulan-DVD in die Hand, gemäß dem Motto: Wenn du mir den Film einlegst, heule ich nicht los. Mir ist eigentlich alles egal - Hauptsache etwas Ruhe.
„Mama, komm schnell, schnell“, tönt Marian aus der Küche. Also - wieder flugs zurück. Mit Tischdecke und Pullover versucht er, die Flut der Wassermalfarbe aufzuhalten, die sich gerade über den Tisch ergießt. Doch die schwarz-braune Brühe tröpfelt schon auf den Boden. „Macht nichts, das ist wirklich nicht schlimm“ versichere ich ihm und gemeinsam trockenen wir Tisch, Eckbank und Boden. Angesichts der vielen Flüssigkeiten, die ich seit geraumer Zeit aufwische, drängt es meine Blase Richtung Klo. Dort angekommen, erklärt sich auch gleich das geheimnisvolle Verschwinden der zuvor vermissten Küchenrolle. Augenscheinlich ist sie jetzt vor allen Dingen dick und weniger durstig. Aufgeschwemmt verstopft sie unsere Toilette - sehrwahrscheinlich Leas Werk. Gut - bevor ich mich erleichtere, wird der Uriniertümpel vom Küchenpapier befreit – schließlich möchte der ja auch mal frei durchatmen, hätte Marian jetzt vielleicht gesagt.
Mulan ist wohl doch nicht der Renner, denn während die chinesische Heldin im Kampffrack ihres Vaters über unseren Bildschirm flimmert, hat sich unser Töchterchen in der Küche einen Becher Wasser eingegossen und da Lea sehr gierig sein kann, hat sie versucht, den gesamten Flascheninhalt in einen 0,2l Glas unterzubringen – was ihr natürlich nicht gelungen ist. Mit Physik ist das Kind noch nicht so vertraut, und die Oberflächenspannung des Wasser ließ spätestens da zu wünschen übrig, als die restlichen 0,8 l noch mit Elan nachgegossen werden. Es sabbert also wieder auf den Küchentisch und von dort wieder auf den Boden. Wenigstens nur Wasser, und das komplett durchnässte Kind ist ja schnell wieder umgezogen. Kurz vor Zwei – schnell noch zu Bettina – neue Eier holen. Lea nehme ich mit, um weitere Überschwemmungen und andere Katastrophen während meiner Abwesenheit zu vermeiden.
Gutgelaunt stopft Lea alles in den Regalen des Hofladens Befindliche in ihre Einkaufstasche. Ich ignoriere ihren Tatendrang zunächst und kaufe die verbliebenen Eier ein – 18 Stück. Mal sehen, wie lange die halten.
Noch etwas Fleisch und Sahne – fertig. An der Kasse packe ich unsere Einkäufe um. Leas zurück in die Regale, die offiziell erstandene Ware in die Tasche. Die Eier trage ich lieber selbst, da Lea die Stofftasche nicht hergibt. Ein kluger Schachzug, denke ich, nachdem ich sehe, wie die kleine Dame die Einkaufstasche quer über den Hof Richtung Heimstatt über den Boden schleift. Aus der Hand gibt sie ihre Beute nämlich nicht.
Zuhause angekommen, wirft sie mit Elan die Tasche auf den Küchentisch und stellt schon mal (oder besser gesagt: wieder mal) die Pfanne auf den Herd, schließlich soll der kurz zuvor erworbene Inhalt des Einkaufsbeutels augenblicklich seiner Bestimmung übergeben werden. Und um dies nochmals zu verdeutlichen, schmeißt sie gleich ein Paket Butter hinterher – ungeachtet der Tatsache, dass diese sich noch ihrer Verpackung befand. Eigentlich wollte ich erst abends kochen, wenn Ralf nach Hause kommt, aber eigentlich ist eigentlich auch gar kein Wort. Zu gut deutsch – wir braten in friedlicher Koexistenz Hackbraten, Bratkartoffeln und Spiegelei. Immer noch besser, als ständig die Küche zu wischen.
Die Kids schmatzen vergnügt an ihrem Essen herum und ich genieße meinen ersten Kaffee an diesem Tag. Ist ja auch erst drei Uhr. Irgendwann ist selbst ein Kind wie Lea satt, und der Tisch kann abgeräumt, die Spülmaschine eingeräumt und die Töpfe gespült werden. Lea hilft tatkräftig mit. Spülen ist eine ihrer Leidenschaften. Auch wenn sich das Wasservolumen im Becken um die Hälfte reduziert und sich in Leas Bekleidung aufsaugt... - wie gesagt, Kinder sind ja abwasch- und umziehbar.
Schließlich ist die Küche wieder trocken und ich frage mich, ob ich heute doch noch andere Räume in unserem Hause betreten kann. Ich entschließe mich, diesen Tag schriftlich festzuhalten. Für andere Tage, an denen es vielleicht ebenfalls so chaotisch ist, um sicherzustellen, dass der Heutige keine Ausnahme ist. Für Tage an denen Lea nicht so gut drauf ist. Als Erinnerung an ihre gute Zeit und als Hoffnung, das diese guten Zeiten bleiben.
Und während ich hier tippe, just genau in diesem Moment, zuppelt Marian an meinem Ärmel, schaut mir Augen und teilt mir mit: „Lea will unten wohl noch mal spülen, aber das Becken ist verstopft und das Wasser läuft über.“
Advent
Die Adventszeit ist wirklich eine Zeit der Wunder. Beladen mit dem Gewicht eines Plastikdinosauriers erschien es Marian unmöglich, die Treppe Richtung Bad und Schlafzimmer zu erklimmen. „Du musst mir helfen“, forderte er mich auf, und um sein Leid zu unterstreichen, warf er sich mitsamt seines Dinosauriers zu Boden. Die Beine wollten eben nicht mehr, erläuterte er.
Ich zeigte Erbarmen und erklärte, dass ich ihn hoch tragen würde. Ich hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, als das kleine Männlein aus der sich auf dem Boden befindlichen Position flugs in meine Arme sprang, ohne vorher Anlauf zu nehmen. Auf meine Frage, wie er denn einen solchen Kraftaufwand bewerkstelligen konnte – schließlich lag er gerade eben noch völlig erlahmt auf dem Boden – antwortete er: „Ein Wunder“. Nummer eins.
David zeigt sich äußert bildungsbeflissen und geht gutgelaunt in den Weisheitstempel, der sich Schule nennt. Gemsen gleich hüpft er morgens aus dem Bett und bringt zur Zeit durchweg gute Noten mit nach Hause. Neue Freundin? Einsicht? Ich beginne, mir schon fast Sorgen zu machen. Wunder Nummer zwei.
Lea hingegen ist weder von Kerzengeflimmer, noch Adventskalender sonderlich beeindruckt. In ihrer unnachahmlichen Art dezimiert sie mit stoischer Ruhe unsere Kühlschrankvorräte. Birgt dieser doch die heißgeliebten Monte (so eine Art Joghurt), deren Anzahl sich in Leas Nähe flugs von 12 auf 0 reduzieren. In einer bisher noch nie dagewesenen Joghurtspenderlaune, schenkte sie ihrem kleinen Bruder drei von den Monte-Töpfchen. Wunder Nummer drei bis sechs.
Einkauf
„Gut drauf – schlecht drauf.“ So bezeichnen wir in unserer Familie Leas körperliche Verfassung. Sie sind zu geflügelten Worten geworden. Begriffe, die sich mit ihrer Aussprache für uns in eine klare Botschaft verwandeln, die keinerlei weiterer Erklärungen bedürfen.
Im Bett liegend, von ständigen Krämpfen heimgesucht und kaum in der Lage wenige Schritte zu gehen, ohne hinzufallen und sich Verletzungen zuzuziehen – das heißt „schlecht drauf sein“. Eine banale Bezeichnung für einen Zustand, der mich in die Tiefe ziehen kann. Nicht immer – aber oft genug, um sich zu fragen ob das Gefühl von Hilflosigkeit eigentlich Grenzen kennt?
Wut macht sich breit, da die Menschen technisch in der Lage sind Mond und Mars zu erkunden. Astronauten ins Weltall schießen, um baufälligen Metallschrott aneinander zu flicken, damit Funk- und Fernsehübertragungen garantiert werden können.
Tolle Leistung, wirklich – die Ironie, dass ein junger Mensch, der geistig behindert ist und somit sowieso Fremdhilfe benötigt, um täglichen Bedürfnissen wie Waschen, Zähne putzen, Essen und Trinken nachzukommen, nicht - oder zumindest nur im geringen Maße, geholfen werden kann, während die Wissenschaftler dieser Welt darüber nachbrüten, wie die Eisschichten eines der kleinen Jupitermonde mit Hilfe einer Sonde am effektivsten durchbrochen werden können, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Ungerecht und sogar etwas idiotisch muten diese Vergleiche an. Das sagt mir der Verstand, der seinen Zeigefinger zu einer scheltenden Bewegung erhebt, und mich ermahnt nicht unsachlich zu werden. Das alles hat nichts miteinander gemeinsam. Beides ist wichtig.
Zukunftsängste und wieder diese Hilflosigkeit rufen solche Gedanken hervor. Vielleicht sogar zu Beginn von Leas Erkrankung Neid. Warum immer Lea? In den ersten vier Lebensjahren hat sie so viele Rückschläge erlitten, wie andere sie mit 70 noch nicht erlebt haben. Neid, dass andere sich mit Probleme herumärgern, von welcher Windel ihre Kinder Picke am Hintern bekommen und von welcher nicht. Die Frage nach der Anti-Pickel-Windel hat sich uns zumindest nicht gestellt.
Aber das habe ich schnell hinter mir gelassen. Im Anfangsstadium sucht man Ursachen, Erklärungen, um für sich die Schuldfrage zu klären. Doch diese spielt überhaupt keine Rolle. Hat man als Elternteil diesen Punkt erst einmal erreicht, offenbart sich das Wesentliche: Lea muss es gut gehen.
Weder David noch Marian besitzen die Ausgeglichenheit ihrer Schwester. Sie ist zufrieden, geradezu fröhlich. Liebt Strasssteine und kitschige Armbänder, Haarschmuck der glitzert , Lackschuhe und Kleider über alles. Sie symbolisiert das, was gemeinhin als „richtiges Mädchen“ publiziert wird.
Kann eine richtige Ziege sein, wenn es darum geht ihre heißgeliebten Monte oder Fruchtzwergebecher zu verteidigen. Überhaupt – wenn es ums Essen geht, kennt sie keine Freunde und Verwandte. Hat Lea Hunger, bin ich weniger Mutter, als vielmehr Nahrungsbeschafferin und Joghurtbecheröffnerin.
Schnell soll es bitte gehen und wenn ich nein sage, steht eine Auseinandersetzung mit Fussgetrappel und rumjaulen bevor. Sie gibt zwar irgendwann nach, doch das theatralische zu Boden werfen geht in jedem Fall voraus. Ist ihre Wut verraucht, probiert sie es, wenn Ralf nach Hause kommt, auf jeden Fall noch mal. Egal ob inzwischen eine, drei oder acht Stunden vergangen sind.
Zur Zeit, im Dezember 2003, ist Lea gut drauf. Sie ermüdet zwar schnell, aber sie fällt nicht oft und läuft gutgelaunt durchs Leben. Als die freundliche Verkäuferin von Eckmanns Backstuben nach meinen Wünschen fragt, fege ich die zuvor bewegten Gedanken mit einer Handbewegung weg. Vergleiche mit Mond und Mars gehören nicht in eine Backstube, auch wenn man in einer Schlange steht und lange warten muss, bis man an die Reihe kommt.
Während ich noch mein frisch erworbenes Brot einpacke, fragt David: “Wo ist eigentlich unsere kleine Zwiebel?“ Und drückt mit diesem liebevollen Kosenamen für seine kleine Schwester, die Gefühle aus, die er für sie hegt.
Der Blick in den leeren Buggy und in das angrenzende Lebensmittelgeschäft offenbart, was David und ich gleichzeitig denken. Mit einem Kindereinkaufswagen ist Lea auf, um für Nachschub an Monte und Fruchtzwerge zu sorgen.
“Ich geh schon mal zum Kühlregal“, so David, der sich keinen anderen Ort innerhalb Eckmanns vorstellen konnte, der auch nur annährend soviel Anziehungskraft auf Lea ausüben könnte, als die Kältetheke, mit ihren verlocken Angeboten an Quark- und Joghurtzubereitungen.
Das karierte Stück Stoff, welches sich elegant um einen kleinen Hintern schmiegte und die dazugehörigen bestrumpften Beine, die noch aus dem Kühlregal herausragten, ließen keine Zweifel offen: Sie hatte die Monte-Ecke entdeckt. Beherzt zupfe ich das Kind aus der Theke, um möglichen Erfrierungen vorzubeugen. Mit lautem, fröhlichem Quieken zeigt Lea ihre Beute. Sie hat es wirklich geschafft, das was sich an Vanille-Schokopudding noch im Regal befand, in ihren Wagen zu stapeln. Neugierige und auch unverständliche Blicke anderer Kunden stören Lea nicht.
Unbeirrt wendet sie sich den Fruchtzwergen zu, die ebenfalls ihr neues Zuhause in Leas Magen finden sollten. Mit Ganzkörpereinsatz gelingt es ihr erneut, die begehrte Ware an sich zu reissen. Eine Kundin, die ebenfalls nach den Fruchtzwergen griff, wird mit giftigen Blicken gestreift. Doch Lea kann auch großzügig sein. Einen Becher knipst sie für die junge Dame ab.
Ich greife ein. Mit einem Lächeln überreiche ich der Frau eins, der sieben Packungen (mit je sechs Töpfchen), die sich bereits in Leas Wagen befinden.
Hinter ihrem Rücken versteht sich, da ich keine Lust hatte, noch mehr seltsame Blicke zugeworfen zu bekommen, nur weil die junge Lady wie eine Sirene losheulen würde.
David ist belustigt über die Aktivitäten seiner Schwester, während ich damit kämpfe, den Großteil ihrer Einkäufe überhaupt wieder in das Kühlregal zu schichten. Da was ich vorn einsortiere, holt Lea hinter meinem Rücken wieder raus. Kein einfaches Unterfangen, aber ich bin schneller und reduziere den Einkauf um ein Vielfaches. Lea ist sauer. Knatschend gibt sie auf und akzeptiert aber mehr oder weniger mein penetrantes NEIN.
Wir einigen uns auf zwei Montepackungen und der angebrochenen Riege Fruchtzwerge, die Eckmann jetzt sowieso nicht mehr verkaufen könnte. Innerlich sehe ich, wie ich mir den Schweiß von der Stirn wische – gut, dass Marian zuhause geblieben ist. Den hätte ich jetzt mit Diskussionen wie „...aber Lea hat das und ich wünsche mir jetzt....“überhaupt nicht gebrauchen können.
Auch Lea schreibt
Eigentlich sollte das ein Text von Lydia für die Schwäbische Zeitung Friedrichshafen werden. Lydia musste ans Telefon, Lea hatte freie Bahn.
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Die Pandemie
Diesen Brief hat Ralf Mitte Juni 2020 geschrieben
Leas Fruchtjoghurt
Was würde ich drum geben, manchmal in Deinen Kopf schauen zu können. Nur um zu sehen, was Du gerade denkst. Neulich war wieder so ein Moment. Wir saßen alle beim Abendessen und Du, die ansonsten immer als erste am Tisch sitzt, die in ihren Taschen lieber Bergkäse und illustrierte Kochbücher herumträgt als Puppen oder sonstige Utensilien, Du warst anders. Hattest keine Lust zu essen und schautest nur aus dem Fenster. Traurig, mit zitterndem Kinn und Unterlippe und einem Mund, der entgegen seiner sonstigen Ausrichtung einen Halbmond nach unten bildete. Deine Augen füllten sich mit Tränen.
Seit Mitte März bist Du wieder bei uns in der Wohnung, nicht mehr in Deinem Zimmer in der Wohngruppe des KBZO in Ravensburg. Seit Mitte März hast Du Deine Freundinnen und Freunde dort nicht wiedergesehen, hast keinen Tagesablauf, wie Du ihn gewohnt bist und darfst nicht mal mitkommen, wenn wir einkaufen gehen. Seit Mitte März hast Du dieses Haus und seinen Garten kaum verlassen, weil Du zur Hochrisikogruppe gehörst. Du kannst auch keinen Mundschutz tragen, den würdest Du Dir einfach herunternehmen, weil Du nicht verstehen kannst, was das soll. Und Abstand kennst Du auch nicht. Du gehst auf Leute zu, die Du magst. Bei Freunden setzt Du Dich auch gerne mal auf den Schoß. Warum das jetzt alles nicht geht, weißt Du nicht. Als neulich Freunde kurz vorbei kamen, musstest Du im Haus bleiben, wir saßen im Garten. Dein Bruder Marian hat auf Dich aufgepasst. Und trotzdem lachst Du, freust Dich über jeden, den Du siehst, wenn Du aufstehst.
Doch jetzt sitzt Du da am Fenster und bist traurig und wir wissen nicht, warum. Hast Du Heimweh? Willst Du einfach wieder zurück? In Dein Zimmer, in Deine Wohngruppe, wo Du mit Yasi so gerne die Klamotten tauschst? Und dann kommt Marian und gibt Dir ein Töpfchen Fruchtjoghurt.
Du schaust hoch, schaust uns an und keine fünf Minuten später ist Deine Welt wieder in Ordnung. Du lachst, bist glücklich und lässt Dich auch mit dem Rest des Abendessens füttern. Und da draußen ziehen Menschen protestierend auf die Straßen, weil sie Schutzmasken tragen oder sich in ihren Grundrechten eingeschränkt fühlen. Ungeachtet der Gefahr weiterer Infektionen setzen sie sich über alles hinweg und gehen zum Teil soweit, die verrücktesten Theorien über das Virus zu verbreiten. Was leiden diese Menschen mehr als Du? Ich bewundere Dich manchmal, wie schnell sich für Dich die Probleme der Welt relativieren – mit einem Fruchtjoghurt.
Dieser Text ist am 24. Juni 2020 in der Schwäbischen Zeitung Friedrichshafen erschienen. www.schwaebische.de
Das sagen andere
Aus dem Newsletter der Digital-Redaktion der Schwäbischen Zeitung. Vielen Dank an die Kollegen in Ravensburg:
LIEBER HERR XX,
„Was würde ich drum geben, in Deinen Kopf schauen zu können. Nur um zu sehen, was Du denkst.“ Mit diesen Worten beginnt ein bewegender Brief, den mein Kollege Ralf Schäfer an seine Tochter geschrieben hat.
Lea hat eine geistige Behinderung, die aber ihrer Lebensfreude, Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit nie wirklich etwas anhaben konnte. Doch dann kam Corona – und die Familie stellt fest, was die Pandemie mit ihrer Tochter macht, wie sie sie verändert. Lea hat keinen Appetit mehr, starrt aus dem Fenster. Plötzlich zittert die Mundpartie und die Tränen fließen.
Ralf Schäfer beschreibt in seinem Brief an Lea Situationen, in denen sich zweifellos viele Menschen mit geistiger Behinderung oder körperlichem Handicap sowie ihre Angehörigen während der Corona-Pandemie wiedererkennen.
Es geht aber auch um Lichtblicke, um Hoffnung und Momente ehrlicher Freude für die der Vater die Tochter bewundert – während er sich beim Abgleich der Lebenssituationen über andere Menschen wundert.
HIER GEHT ES ZUR LESEEMPFEHLUNG
Ich wünsche Ihnen ein wunderbares Wochenende – bleiben Sie gesund!
Michael Wollny
stellv. Leiter Digitalredaktion
Ohrfeige für Lea
Unsere Tochter Lea ist wieder in ihrer eigenen Wohnung im KBZO Ravensburg. Sie war gleich Mitte März mit Beginn des Lockdown zu uns gekommen, um als Hochrisikopatientin in einer von uns kontrollierten Quarantäne zu sein. Das sollte auch die Betreuer im KBZO entlasten, die für die Betreuung der KBZO-Bewohner unter den Auflagen der Coronaphase bis an die Grenzen des Möglichen gingen, um Pflege und Betreuung zu gewährleisten.
Neue Sicherheitsvorkehrungen im KBZO, an Corona angepasste Verhaltensregeln und die Möglichkeit, Tagesstrukturen für Menschen mit Behinderung wieder neu aufzubauen, machten nun eine Rückkehr von Lea in die eigenen vier Wände wieder möglich. Mein großer Dank geht an die Menschen, die das KBZO und die IWO (Integrations-Werkstätten Oberschwaben) zur Heimat für meine Tochter und viele Menschen, denen es ähnlich geht, werden lassen.
Bei uns hatte Lea Heimweh entwickelt, nachdem sie das KBZO so unerwartet verlassen hatte. Sie hatte ihre Freunde und Mitbewohner schmerzlich vermisst, so dass ihre anfängliche Traurigkeit, die hier und da mit einem Fruchtjohurt noch behoben werden konnte, immer stärker wurde.
Heute ist das alles wieder „normal“. Lea hat uns auch am vergangenen Wochenende besucht, fröhlich, gut gelaunt und qietschfidel. Und sie stand am Samstag wieder mit der Einkaufskiste im Flur, weil sie mit uns ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen wollte, im Lebensmittelmarkt einzukaufen.
Lea kann nicht sprechen, aber wir verstehen, was sie uns sagen will. Noch immer aber ist es wegen der Coronaregeln nicht möglich, dass sie wieder mit uns einkaufen geht. Sie versteht das nicht, sie kann es nicht und sie wird sich weiterhin dagegen wehren, eine Maske aufzusetzen. Weil sie nicht weiß, was das alles soll. Lea leidet darunter und sie ist der Situation so hilflos ausgeliefert, wie viele andere Menschen mit Behinderung oder Pflegebedarf auch. Das tut mir weh, aber ich verstehe, dass es nunmal nicht anders geht.
Vor diesem Hintergrund bringe ich übrigens noch immer keinen Funken Verständnis für die Menschen auf, die eigentlich alle Freiheiten haben, die sich aber wegen der Notwendigkeit, eine Maske tragen zu müssen, in einer Corona-Diktatur wähnen. Wenn wir in einer Diktatur leben würden, wären Sie wohl alle schon verhaftet worden. Dieses Verhalten ist eine schallende Ohrfeige für Menschen wie Lea.
Und trotzdem freue ich mich wie ein Schneekönig auf den Tag, an dem die Maskenpflicht fällt und Lea ihrem Hobby nachgehen kann. Auf den Tag, an dem sie mit uns wieder ihren Fisch und Käse einkaufen gehen kann.
Dieser Text erschien am 12. August bei der Schwäbischen Zeitung Friedrichshafen sowie online unter schwaebische.de
Corona kam um 8.30 Uhr per Telefon
Liebe Lea, es ist Freitag, 8.30 Uhr. Das Telefon klingelt und die Wohnheimleiterin des KBZO Ravensburg informiert uns, dass eine Mitarbeiterin der Integrativen Werkstätten Symptome von Corona zeigt. Kurze Zeit später werden eure Wohngruppen hermetisch abgeriegelt.
Uns kreisen die Gedanken im Kopf. Du gehörst – wie einige deiner Mitbewohner – zur Hochrisikogruppe, weil du sehr schnell Lungenentzündungen bekommen kannst. Unsere Sorgen fahren Karussell. Was, wenn du dich infizierst hast? Wenn du ins Krankenhaus musstest, war bisher immer einer von uns dabei. Wer geht jetzt mit, wenn das nötig wird? Wer bleibt zuhause? Morgen soll dein Testergebnis vorliegen.
Dass du uns dieses Wochenende nicht besuchen kommen kannst, ist da noch das geringste Problem. Der Fisch, den ich dir bereits gekauft habe, - du liebst Fisch - liegt jetzt im Kühlschrank. Ich sehe dich geradezu vor mir, wie du einmal einen Zander aus dem Kühlschrank geklaut hast und ihn im Wohnzimmer im Sessel wie ein Kuscheltier im Arm gehalten hast. Ich erinnere mich auch daran, wie du sonst in der Küche neben mir stehst. Wie du mir helfen willst und schon mal die Eier in die Pfanne wirfst, obwohl wir gar keine brauchen.
Unsere Gedanken sind jetzt aber auch bei den Mitarbeitern in deiner Wohngruppe. Sie müssen jetzt mit voller Schutzausrüstung arbeiten: Umhänge, große Masken, fast unerkennbar. Diese Menschen gehen in diesen Tagen an ihre Grenzen und beklagen sich nicht darüber. Das Personal des KBZO hat einen Orden verdient. Pflege und soziale Zuneigung sind unter Vollschutz nur schwer möglich. Du wirst deine Betreuer vielleicht nicht einmal erkennen. Auch wenn du niemals verstehen wirst, was ich dir damit sagen will: Drück die mal. Die haben es echt verdient.
Die Nacht auf Samstag war lang für uns. Ich selbst habe vor lauter Sorgen wenig geschlafen. Das Frühstück hat nicht geschmeckt. Dein Bruder fragt ständig nach, ob die Testergebnisse schon vorliegen. Die Minuten fühlen sich wie Stunden an.
Dann der Anruf: Alle Bewohner sind negativ getestet. Die Mitarbeiter müssen noch bis Ende der Corona-Inkubationszeit am Donnerstag in Vollschutz arbeiten, sind noch nicht getestet worden. Ich bin dennoch erleichtert, dass es dir wohl gutgeht. Die Reittherapie, bei der Du in Markdorf das wohl gutmütigste Pferd weit und breit stets zu Höchstleistungen in Sachen Geschwindigkeit antreibst, konnten wir verschieben. Jetzt hoffen wir erst mal, dass deine Betreuer keine Symptome zeigen.
Nebenbei muss ich schon wieder von Menschen lesen, die ihre Maske nicht aufsetzen wollen, die sich weigern, Abstand zu halten. Die Corona für nicht gefährlicher halten als eine normale Grippe.
Was ist das für eine Einschränkung, Maske und Abstand? Woher kommen denn die hohen Infektionszahlen? Sie kommen auch daher, dass irgendwelche Ignoranten ihre vermeintliche Freiheit zu verlieren glauben, wenn sie sich ein Stück Stoff vor ihr Gesicht hängen. Die Zahl der Testungen ist seit Wochen stabil, die Zahl der Infektionen steigt enorm. Du kannst das alles nicht verstehen. Aber viele andere Menschen tragen Masken und halten Abstand auch zu deinem Schutz. Dafür bin ich dankbar.
Am Dienstag hören wir, dass du schon mal Kicheranfälle bekommst, wenn einer der in Vollschutz ausgerüsteten Betreuer um die Ecke kommt. Dir scheint es gutzugehen.
Bleibt bitte alle gesund."
Die Helden des Alltags geraten in Vergessenheit
Der Anruf kommt früh morgens
Montag, 8 Uhr: Ein Anruf der Integrativen Werkstätten Oberschwaben. Unsere Tochter Lea, die dort betreut wird und in einer Wohngruppe des KBZO Ravensburg lebt, ist getestet worden. Lea ist positiv. Was tun? – lautet die Frage. Die Pflege- und Wohnheime für Menschen mit Behinderung oder Senioren sind überfordert. Nicht nur, dass überall Pflegekräfte fehlen und dringend gesucht werden, auch die Häuser als solche kommen an ihre Grenzen. Es gibt keinen Plan B, es klingt komisch, aber wer an Corona erkrankt, muss quasi weggesperrt werden. Das ist nicht böse gemeint und man kümmert sich auch sehr um diese Menschen.
Die Maßnahme muss aber so sein, um alle anderen Bewohner zu schützen. Die Betroffenen werden isoliert, was prinzipiell nicht weiter schlimm wäre und auch sonst bei Corona-Patienten geschieht. Was aber, wenn man den erkrankten Patienten nicht begreiflich machen kann, warum das passiert und was da vor allem gerade geschieht? Unsere Tochter Lea wäre beinahe in diese Lage gekommen. Wir kennen Lea. Sie ist der liebenswerteste Mensch auf diesem Planenten, tut niemandem etwas zuleide, es sei denn, man kommt ihrem Teller zu nahe. Sie hat fast immer gute Laune. Sie ohne ihr ersichtliche Gründe zu isolieren, käme dem Versuch gleich, einen Brummkreisel zum Stillhalten aufzufordern. Wir holen sie zu uns.
Montag, 15 Uhr: Lea turnt in der Wohnung herum und zieht sich jede Maske vom Gesicht, die wir ihr aufsetzen. Wir hingegen tragen konstant FFP2. Die Fenster sind geöffnet, Disney läuft und Lea hat ihr Abendessen schon mal begonnen.
Montag, 19.30 Uhr: Lea ist müde, will ins Bett, zumindest packt sie alles, was sie so zu gebrauchen gedenkt, in ihre Tasche. Mozarella, ein Glas Majonaise, Mineralwasser, Orangensaft, ein Stück Bergkäse, ein Lustiges Taschenbuch, ihren Becher, ihr iPad, bei der dritten Flasche Mineralwasser helfen wir tragen.
In ihrem Zimmer schläft Lea schnell ein. Wir hingegen trinken noch ein Glas Wein und warten, was passiert. Bekommen wir jetzt auch Corona? Wie wird das verlaufen? Wir sind wie Lea dreimal geimpft, Angst vor schweren Symptomen haben wir nicht. Trotzdem stehen wir vor einem großen Fragezeichen. Das Problem Covid ist mit der Entscheidung, Lea zu uns holen, nicht gelöst, es beginnt gerade erst.
Ein Gedanke aber bleibt auf jeden Fall in meinem Kopf: Die einstigen Helden des Alltags, die in den Pflegeeinrichtungen dieses Landes ganz Großes geleistet haben und leisten, sind wieder vergessen. Sonst hätten die Einrichtungen nicht derartige Probleme.
Veröffentlicht: schwaebische.de
Es kommt wie es kommen musste
Sonntag, eine Woche, nachdem Lea zu uns kam.
Der dritte Strich beim Schnelltest. Lea immer noch, Lydia seit Freitag und ich seit Sonntagmorgen. Es ist halt gekommen, wie es kommen musste.
Stellen wir uns doch mal einfach vor, es gibt eine junge Frau, die es seit Beginn ihres Lebens nicht anders kennt, als immer dann, wenn es ihr nicht gut geht, Nähe zu suchen. Meist bei uns, aber auch sonst so. Diese Nähe kann Lea im Wohnheim niemand geben, ohne alle anderen Bewohner zu gefährden. Das ist mit ein Grund, warum wir sie nach positivem Covid-Test zu uns geholt haben.
Kaum ist sie bei uns, verfällt sie in ihre bekannten Muster. Erstmal im eigenen Bett einschlafen, nachts dann wieder aufstehen. Das kann um 23 Uhr sein, und wir bringen sie wieder in ihr Bett. Das war aber auch neulich um 5 Uhr und sie hat sich wie selbstverständlich neben uns gelegt. So schnell hast Du einfach keine FFP2-Maske auf dem Gesicht, auch wenn die auf dem Nachttisch liegt. Außerdem dürfte es auch eine Kunst sein, mit einer solchen Maske weiter zu schlafen, ohne dass sie verrutscht oder nicht mehr dicht ist. Lea in einem solchen Moment wegzuschicken? Sorry, aber das geht nicht. Wir können ihr nicht erklären, was da gerade vorgeht. Sie jetzt nicht so zu betreuen, wie wir das bis zu ihrem Auszug vor einigen Jahren und immer, wenn sie bei uns ist, stets getan haben und tun, kommt gar nicht in Frage. Dann hätten wir sie nicht zu holen brauchen.
Also sind wir jetzt ebenfalls positiv. Wir hoffen darauf, dass Lea bald genesen ist und wieder nach Hause fahren kann. Wer sie holt, wie sie dorthin kommt? Keine Ahnung. Wird sich ergeben.
Lea stört eine "Dame" beim Kulturufer
Das schönste Festival in Friedrichshafen, am See und wo sonst noch. Das Kulturufer. Und da isst Lea eine Pommes.
Beim Kulturufer sitzt eine Frau mit ihrer Tochter und macht Pause. Sie essen an der Freitreppe und genießen das Festival. Plötzlich wendet sich eine „Dame“ an die beiden, spricht die Frau an und es entwickelt sich eine unfassbare Auseinandersetzung. Sie hatte die beiden zuvor minutenlang beobachtet.
Die Frau, Lydia, ist meine Ehefrau. Und unsere Tochter Lea hat eine Behinderung. Sie hat unter anderem motorische Probleme im Mundbereich und isst — wenn sie dazu in der Lage ist und nicht gefüttert werden muss — mit Lätzchen, langsam und nicht höfischen Benimmregeln entsprechend.
Die „Dame“ kenne ich nicht, ich weiß auch nicht, ob es gut wäre, sie kennenzulernen. Sie kam an den Tisch und forderte meine Frau auf, sich doch bitte woanders hinzusetzen oder umzudrehen, weil die Art, wie das Kind essen würde, nicht besonders ansehnlich sei. Die „Dame“ fühlte sich also gestört.
Lydia antwortete mit den Worten: „Wegschauen hilft.“ Die Dame echauffierte sich: „Sie müssen ja nicht gleich unverschämt werden.“ Lydia entgegnete: „Darauf habe ich ja wohl kein alleiniges Abo. Schauen Sie mal in den Spiegel.“
Lea hat sich keinen Deut um diesen Vorfall gekümmert, sie hat ihre Pommes weiter gegessen und hatte ihren Spaß am Kulturufer. Sie ist eine lebensfrohe junge Frau, die sich von solchen ignoranten und unverschämten Menschen in keinster Weise beeindrucken lässt, schon gar nicht beim Essen. Was muss passieren, dass Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft wirklich akzeptiert werden? Es gibt ein altes Foto, das Lea zeigt, wie sie ein Eis isst. Damals kam ebenfalls eine „Dame“ zu uns an den Tisch und fragte betont: „Was hat das Kind denn?“ Die Antwort von Lydia war nur: „Vanille–Eis.“ Das war der Auslöser für Leas Internetseite www.lea–raphaela.de. Mal sehen, wohin der Fall auf dem Kulturufer jetzt führt.
Dieser Text ist in der Schwäbischen Zeitung erschienen:
www.schwaebische.de/regional/bodensee/friedrichshafen/junge-frau-mit-behinderung-stoert-beim-kulturufer-1813972
Wird fortgesetzt